Es war im Krug zum Grünen Kranze zu Marburg, wo wir uns allwöchentlich trafen um eventuelle Langeweile zu vertreiben. Und dem dunklen Winterwetter zu trotzen. "Wir" sind gottähnlicher Studenten; Er wusste alles, wir wussten es noch besser. Beim dritten Bier wurde man ebenfalls schöpferisch. Mir fiel die Rolle zu, jeweils eine Predigt nach oostpraisischer Art zu halten. Meine für Freunde grosse Kunst war mir ein kleines: ich machte die Augen zu, versetzte mich in die Elimkirche zu Grünthal und schilderte, was sich 7 500 Kilometer ab sonntäglich tat. Ich gebe zu, der Apostel Paulus konnte es vermutlich auch nicht viel besser. Das war an einem Abend im Krug einem Prof. Winkler nicht entgangen. Ob er mich sprechen dürfe? "Sie haben Glück" so ich. Er führe ein Seminar im Fache "Elekution" also Vortragskunst, ob ich nicht Lust hätte mitzumischen? "Schon wieder haben Sie Glück, denn abends bin ich manchmal verfügbar." Da sich die Weihnacht näherte, bat Professor Winkler mich, Trakl's "Winterabend" vorzutragen. Bei dem Vers: "Schmerz versteinerte die Schwelle" stockte ich. "Was führte der Dichter hier im Schilde?" fragte ich. Professor Winkler war ein eher gütiger Mensch, ein Abraham Teichgröb, aber mit drei Scharen; Abraham hatte eins. Ein schmales. "Als Trakl dieses Gedicht schrieb war er in Ihrem Alter, er starb mit 27. Wie ich Sie einschätze, wird Ihnen die Erfahrung schon beibringen, was dieser Vers bedeutet. Das ist die Aufgabe der Zeit." Na also, dachte ich mir. Durch die Krankheit meiner Mutter bedingt, kam ich zurück nach Manitoba um hier meine Scharen, beide, einzulassen. Eines Tages ließ ein gewesener Lehrer, ja ein vielgelobter, um nicht zu sagen gepriesener Schulleiter G. H. Peters, ehemals Oberster der Mennonitischen Höheren Schule zu Gretna, also MCI, von sich hören. Ob ich vielleicht Lust hätte, ihn zu besuchen? "Jawohl!" Ich wähnte den Mann längst in oberen Gefilden. Mitnichten! Er wohnte zwischen Elmwood und East Kildonan, also am Rande seiner geliebten Schar. Ich rechnete mit einer bescheidenen Villa, mit einigen tausend Büchern, einem Flügel sowieso; ein Ort erfreulicher Beschaulichkeit, des verdienten Wohlwollens, im gedämpften Licht verehrten Dankes. Eine sakrale Benedictio, wie ich meinte, sie ihm in meinem Geistesauge zustehe. Mennonitische Menschen wie wir, die im Namen Jesu die halbe Welt umarmen, Brot verteilen, Trost spenden, Tränen abwischen, den Dürftigen beistehen, verkörpertes Einfühlungsvermögen der Einsamen. Gerechtigkeit ohnehin. Weit gefehlt mit meinen Bildern der Phantasie. Eher vergilbte Blätter, verblühte Pracht. Dieser ehemals würdige Herr sass in überaus bescheidenen Verhältnissen, ass sein einsames, trockenes Brot mit Tränen, und fristete sein kümmerliches Dasein mit Nachhilfestunden. Ein Opfer ehemaliger Verehrung, Nägel der Vereinsamung an seinem Kreuz. Als ich mich so schnell wie möglich wieder, nach der verlogenen Mennomelodie "Etj hab daut drock" auf den Weg machte, stockte ich bei dem Eintritt seiner Höhle. Und zitierte: "Schmerz versteinerte die Schwelle."
Ein Winterabend Trakl 1887-1914
Wenn der Schnee ans Fenster fällt, Lang die Abendglocke läutet, Vielen ist der Tisch bereitet, Und das Haus ist wohlbestellt.
Mancher auf der Wanderschaft Kommt ans Tor der dunklen Pfaden. Golden blüht der Baum der Gnaden Aus der Erde kühlem Saft.
Wanderer tritt still herein, Schmerz versteinerte die Schwelle. Da erglänzt in reiner Helle Auf dem Tische Brot und Wein.